Expertenstandards in der Wundversorgung

Expertenstandards in der Wundversorgung

„Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung“1. Im Pflegealltag existieren aber noch immer Unterschiede in der Pflegequalität zwischen den verschiedenen stationären und ambulanten Einrichtungen. Expertenstandards haben das Ziel, die Pflegequalität der Pflegeeinrichtungen in Deutschland zu vereinheitlichen und weiterzuentwickeln.

Was sind Expertenstandards?

Expertenstandards sind ausformulierte und veröffentlichte Handlungsrichtlinien, die auf dem aktuellen Wissen in der Pflegewissenschaft und der Pflegepraxis beruhen. 

Das Ziel der Expertenstandards ist die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in der Pflege und die Standardisierung der Pflegeleistung. Für verschiedene relevante Themenbereiche der ambulanten und stationären pflegerischen Versorgung werden Ziele und Maßnahmen festgelegt.

Wer veröffentlicht die Expertenstandards in der Pflege?

Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) entwickelt und veröffentlicht seit mehr als 20 Jahren Expertenstandards für die Pflege. 

Im DNQP haben sich Fachleute aus der Pflegewissenschaft und Experten aus der Pflegepraxis zusammengeschlossen, um sich über das Thema Qualitätsentwicklung auszutauschen und Expertenstandards zu formulieren. 

Weitere Informationen und eine Übersicht über die bisher veröffentlichten Expertenstandards finden Sie auf der Homepage des deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege.

Was bedeutet der Begriff „Pflegequalität“ bzw. „Qualität in der Pflege“?

Es existiert keine allgemeingültige Definition von Qualität in der Pflege. Eine im deutschen Gesundheitswesen häufig zitierte Qualitätsdefinition geht auf den libanesisch-amerikanischen Arzt Avedis Donabedian zurück: „Qualität ist der Grad der Übereinstimmung zwischen den Zielen des Gesundheitswesens und der wirklich geleisteten Pflege“2.

Wie sind Expertenstandards aufgebaut?

Jeder Expertenstandard hat den gleichen Aufbau: Zielsetzung, Begründung sowie Kriterien zur Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität.

Ziele des Expertenstandards: 

Definition der zu erwartenden Effekte, des pflegerischen Problems sowie der Zielgruppe.

Begründung: 

Beschreibung des Problems bzw. der Situation aus gesundheitsepidemiologischer und wirtschaftlicher Sicht.

Kriterien zur Strukturqualität:

Definition der notwendigen personellen und sachlichen Strukturen, die für eine Umsetzung des Pflegeprozesses zur Verfügung gestellt werden müssen, unter Berücksichtigung zweier Verantwortlicher:

  1. Pflegefachkraft: Planung, Gestaltung, Durchführung und Evaluation des Pflegeprozesses
  2. Pflegeeinrichtung und Management: Anschaffung der notwendigen Materialien und Gewährleistung der Arbeit aller involvierter Berufsgruppen

Kriterien zur Prozessqualität:

Definition und Beschreibung des gesamten Pflegeprozesses. Im Vordergrund steht hierbei die Zusammenarbeit zwischen Pflegekräften, Betroffenen, Angehörigen sowie aller im Pflegeprozess involvierten Berufsgruppen.

Kriterien zur Ergebnisqualität:

Definition der zu erreichenden Effekte und Ziele auf zwei Ebenen:

  1. Personenbezogene Ebene: die erreichten Ziele können an der Patientin bzw. dem Patienten selbst gemessen werden, bspw. indem vorzubeugende Effekte wie die Entstehung eines Dekubitus nicht eingetreten sind
  2. Ebene der Pflegedokumentation: die erreichten Ziele können mittels Dokumentation gemessen werden

Die Kriterien zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sind in 5-6 Handlungsebenen zu finden, die sich am Pflegeprozess orientieren (siehe Tabelle 1).

Zielsetzung
Grundaussage: Zielgruppe und zentrale Inhalte des Standards
StrukturqualitätProzesskriterienErgebniskriterien
S1 Handlungsebene 1:E1 EinschätzungP1
S2 Handlungsebene 2:E2 PlanungP2
S3 Handlungsebene 3:E3 Information, Schulung und BeratungP3
S4 Handlungsebene 4:E4 DurchführungP4
S5 Handlungsebene 5:E5 DurchführungP5
S6 Handlungsebene 6:E6 EvaluationP6

Tabelle 1:  Beispielhafter Aufbau eines Expertenstandards

Was ist der Unterschied zwischen einem Expertenstandard und einem Pflegestandard?

Ein Pflegestandard wird innerhalb einer pflegerischen Einrichtung erarbeitet. Jede Einrichtung kann einen anderen, betriebsinternen Pflegestandard haben. Ein Expertenstandard wird von einem Expertenteam einheitlich für alle Einrichtungen in Deutschland entwickelt und wird auch zur Qualitätsbeurteilung der Pflege von Überprüfungsgremien wie dem Medizinischen Dienst (MD) herangezogen.

Expertenstandards in der Wundversorgung

Ein „Expertenstandard Wundversorgung“ existiert aktuell unter dieser Bezeichnung nicht. 

Unter Federführung der DNQP wurden hingegen mehrere Expertenstandards, die sich auf unterschiedliche Themengebiete rund um Pflege, Patientengesundheit und Wundversorgung beziehen, veröffentlicht. Im Folgenden werden die für die Wundversorgung relevantesten Expertenstandards kurz zusammengefasst.

Expertenstandard „Chronische Wunden“

Der Expertenstandard „Chronische Wunden“ ist in 5 Handlungsebenen aufgebaut:

Handlungsebene 1: Identifikation von Menschen mit chronischen Wunden

Die Pflegefachkraft verfügt über aktuelles Wissen, Personen mit einer chronischen Wunde zu identifizieren. Zusätzlich besitzt sie wichtige soziale und kommunikative Kompetenzen, um die mit der Wunde verbundenen Lebenseinschränkungen, Ängste und Körperbilderstörungen sowie individuelle Bedürfnisse der Betroffenen zu erfassen. Der Mensch und nicht die Erfassung der Wunde steht im Vordergrund!

Handlungsebene 2: Wissen zur Behandlung wundbedingter Einschränkungen

Die Pflegefachkraft verfügt über aktuelles Wissen zur Behandlung von chronischen Wunden und über krankheitsspezifische Maßnahmen. Sie plant gemeinsam mit Patientinnen, Patienten, Angehörigen und allen beteiligten Berufsgruppen Maßnahmen zur Behandlung.

Handlungsebene 3: Koordination der Maßnahmen, Netzwerkbildung

Die Pflegefachkraft koordiniert die an der Wundbehandlung beteiligten Personen, gewährleistet hygienische und fachgerechte Wundversorgung sowie eine kontinuierliche Umsetzung der Maßnahmen. Ggf. ist der Einsatz einer Wundexpertin oder eines Wundexperten gefordert. 

Handlungsebene 4: Beratung, Schulung, Anleitung von Patientinnen, Patienten und Angehörigen

Durch Anleitung von Patientinnen, Patienten und Angehörigen zu alltagsorientierten Maßnahmen im Umgang mit der chronischen Wunde sollen die Fähigkeiten zum gesundheitsbezogenen Selbstmanagement so verbessert werden, dass sich positive Effekte für Wundheilung und Lebensqualität ergeben (siehe auch Artikel zum Thema „Adhärenz“).

Handlungsebene 5: Evaluation

Pflegefachkräfte und pflegerische Fachexperten überprüfen die Wirksamkeit der Maßnahmen und nehmen ggf. nach Absprache mit allen beteiligten Personen Veränderungen vor.

Der Expertenstandard „Chronische Wunden“ bietet praktische Aspekte, um die Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden zu verbessern. Definierte Zielsetzung ist „eine pflegerische Versorgung, die das individuelle Krankheitsverständnis berücksichtigt, die Lebensqualität fördert, die Wundheilung unterstützt und Rezidivbildung von Wunden vermeidet“3. Neben der eigentlichen Wundversorgung stehen somit die individuellen Bedürfnisse und die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten mit einer chronischen Wunde im Vordergrund.

Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege“

Der Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege“ definiert ein individuell angepasstes Schmerzmanagement, das die Entstehung akuter und chronischer Schmerzen vorbeugt oder Schmerzen beseitigt und zum Erhalt oder Erreichung einer bestmöglichen Lebensqualität und Funktionsfähigkeit der Patientinnen und Patienten beiträgt. 

Die Pflegefachkraft beteiligt sich gemeinsam mit Kollegen anderer Berufsgruppen, den Betroffenen und Angehörigen an der Entwicklung eines Behandlungsplans, der medikamentöse und/oder nicht-medikamentöse Maßnahmen wie z. B. einen atraumatischen Verbandswechsel, enthält und, sofern möglich, ein selbstbestimmtes Leben der Patientin oder des Patienten erlaubt. Die Miteinbeziehung von pflegerischen Schmerzexpertinnen und -experten wird fokussiert.

Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Hautintegrität in der Pflege“

Im Sommer 2023 wurde der Expertenstandard "Erhaltung und Förderung der Hautintegrität in der Pflege" veröffentlicht. Laut Angabe der zuständigen Expertenarbeitsgruppe handelt es sich dabei um einen Präventionsstandard. Der Fokus im Expertenstandard liegt auf der Hautintegrität bei den Krankheitsbildern Intertrigo (Hautwolf), inkontinenzbasierte Dermatitis, Skin Tears (Hauteinrisse) und Xerosis Cutis (trockene Haut).

Expertenstandard „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“

Der Dekubitus ist ein häufiges Gesundheitsproblem pflegebedürftiger Personen, das durch Prophylaxemaßnahmen weitgehend verhindert werden kann. Mit dem Expertenstandard „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ sollen Pflegefachpersonen und Pflegeeinrichtungen besser dabei unterstützt werden, eine Dekubitusentstehung zu verhindern.

Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Risikoassessment, welches folgende Aspekte beinhalten sollte: Evaluation der Krankengeschichte, Risikoeinschätzung mit Skalen, Beurteilung des Hautzustandes, Mobilitäts- und Aktivitätsassessment, Erhebung des Ernährungszustandes, Kontinenzbewertung, kognitive Bewertung, sowie die Beurteilung extrinsischer Risikofaktoren.

Die Anleitung und Beratung von Patientinnen, Patienten und Angehörigen zur Förderung der Bewegung, Hautbeobachtung, Umsetzung druckentlastender Maßnahmen und zum Umgang mit druckverteilenden Hilfsmitteln ist ein weiterer, wesentlicher Aspekt einer erfolgreichen Dekubitusprophylaxe

Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege“

Mit dem Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege sollen Pflegefachpersonen und Pflege- und Gesundheitseinrichtungen besser dabei unterstützt werden, Stürze vorzubeugen und Sturzfolgen zu minimieren. Stürze stellen insbesondere für ältere und kranke Menschen ein hohes Risiko dar. Häufige Folge sind (chronische) Wunden, Frakturen und Mobilitätseinschränkungen, die schwerwiegende Einschnitte in die bisherige Lebensführung bedeuten.

Durch rechtzeitige Einschätzung der individuellen Risikofaktoren, eine systematische Sturzerfassung und Beratung von Menschen mit erhöhtem Sturzrisiko und ihren Angehörigen sowie eine gemeinsame Maßnahmenplanung und -durchführung kann eine sichere Mobilität gefördert werden.

Sind Expertenstandards rechtlich verbindlich?

Aktuell sind die Expertenstandards des DNQP nicht rechtlich verbindlich, sie dienen dem MD aber als eine Grundlage der Bewertung von Pflegeeinrichtungen. 

Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege in Deutschland sind per Gesetz nach §113a Sozialgesetzbuch (SGB) XI zur Umsetzung der Expertenstandards verpflichtet4. Aktuell sind die bisherigen Expertenstandards des DNQP jedoch nicht rechtlich verbindlich. Um rechtlich verbindlich zu sein, müssen Expertenstandards im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Bislang ist es jedoch nicht zu einer Veröffentlichung gekommen.

Trotzdem ist die möglichst vollständige Umsetzung der Expertenstandards für jeden Pflegedienst und jede Pflegeeinrichtung empfehlenswert. Pflegeeinrichtungen sind per Gesetz nach §11 (1) SGB XI verpflichtet, nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse zu arbeiten5. Zudem dienen die Expertenstandards als eine der Grundlagen der Bewertung von ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK).

Literatur

Übersicht über die aktuellen Expertenstandards der DNQP

Die Autorin Dr. Roxane Lorenz
Dr. Roxane Lorenz

Nach ihrem Studium der Biologie an der Ruhr-Universität Bochum promovierte Dr. Lorenz zum Dr. rer. nat. Seit 2012 ist sie in der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung bei Dr. Ausbüttel tätig, seit 2018 auch als Leiterin dieser Abteilung sowie der Forschungsabteilung.