Artifizielle Wunden erkennen und behandeln

Artifizielle Wunden erkennen und behandeln

Wenn Menschen absichtlich Wunden manipulieren oder sich Verletzungen zufügen, handelt es sich um selbstverletzendes Verhalten. Das Erkennen und die Behandlung von dabei entstehenden artifiziellen Wunden können die Pflege und versorgende Personen vor besondere Herausforderungen stellen.

Was sind artifizielle Wunden?

Artifizielle Wunden sind absichtlich selbst zugefügte Wunden. Unter die Kategorie fällt auch die absichtliche Manipulation bereits bestehender Wunden, welche sich dadurch verschlimmern.1,2 Bei artifiziellen Wunden handelt es sich um ein medizinisch-psychologisches (psychodermatologisches) Phänomen.1,4 In der Literatur findet man im Kontext von artifiziellen Wunden auch die Begriffe „selbstverletzendes Verhalten“ (SVV) oder aus dem Englischen: nonsuicidal self-injury behavior (nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten, NSSV).4,5 Laut Definition liegt NSSV dann vor, wenn Selbstverletzungen an mindestens fünf Tagen innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate stattgefunden haben.6 Dazu einige Fakten:

  • Man schätzt, dass in Deutschland 0,7 % bis 1,5 % der Allgemeinbevölkerung ein selbstverletzendes Verhalten zeigen (600.000 bis 1,2 Millionen Menschen).2
  • Selbstverletzendes Verhalten ist altersabhängig. Es beginnt meist in der Pubertät (Durchschnittsalter: 13,2 Jahre) und nimmt mit zunehmendem Alter ab.4
  • Es wird vermutet, dass etwa jeder Sechste im Lauf des Lebens von einer Form des selbstverletzenden Verhaltens betroffen ist. Allerdings stellen sich weniger als 10 % der Betroffenen ärztlich vor.4

Verschiedene Formen selbstverletzenden Verhaltens

Selbstverletzende Verhaltensweisen im Zusammenhang mit psychodermatologischen Störungen präsentieren sich sehr unterschiedlich. Sie lassen sich daher nach verschiedenen Kriterien klassifizieren.6 Eine Unterscheidungsmöglichkeit sind die zugrunde liegenden artifiziellen Störungen. Dazu einige Beispiele.1,2,7,8

Selbstverletzendes Verhalten – vor allem im Jugendalter

Die Prävalenz von einmaligem selbstverletzendem Verhalten unter Jugendlichen in Deutschland ist mit 25 % bis 35 % sehr hoch. 12,25 % der Heranwachsenden fügen sich wiederholt (mindestens 5-mal während der Lebensspanne) Verletzungen zu. Sie verletzten sich selbst, um beispielsweise intensive Emotionen zu bewältigen. Typische Risikofaktoren sind: 

  • Mobbing
  • psychiatrische Begleiterkrankungen
  • Missbrauch5 
  • Impulsives Verhalten (sich „ritzen“, sich verbrennen)

Die Betroffenen fügen sich wiederholt Schnittverletzungen oder Verbrennungen zu. Sie verstecken oder leugnen ihr selbstverletzendes Verhalten nicht.6Eine sichtbare Lokalisation am Handgelenk oder an den Unterarmen kann auf einen Wunsch nach Sichtbarkeit hindeuten oder emotionale Schmerzen symbolisieren. Diese Form der artifiziellen Wunden ist beispielsweise typisch für Menschen mit einer Borderline-Störung. Mit den Selbstverletzungen versuchen sie unter anderem, intensive Emotionen zu bewältigen.4 

  • Dermatitis artefacta

Da der Begriff dermatitis artefacta missverständlich ist, sollte er nicht mehr genutzt werden.6 Synonyme sind Pathomimie oder neurotische Exkoriationen ."11Menschen mit Pathomimie fügen sich – meist heimlich – artifizielle Wunden in der Haut, den Haaren, den Nägeln oder den Schleimhäuten zu. Die Betroffenen möchten damit das psychologische Bedürfnis nach Aufmerksamkeit befriedigen, indem sie Zuwendung und Pflege von anderen Menschen erhalten. Betroffene verbergen die Verantwortung für die eigenen Verletzungen. In der Regel verbergen sie ihr selbstverletzendes Verhalten vor medizinischem Fachpersonal. Pathomimie kann in allen Altersgruppen auftreten. Dabei wird eine Häufung bei Menschen mit medizinischem Fachwissen beobachtet.1,2,7

  • Skin-Picking-Syndrom (Exkoriationsstörung, Dermatillomanie, Acne excoriée)1,8

Beim Skin-Picking-Syndrom handelt es sich um eine Zwangsstörung mit typischerweise wiederholtem „Knibbeln“, Kratzen, Reiben und Manipulieren der Haut – entweder mit den Fingern, Fingernägeln oder mit scharfen Gegenständen. Die Betroffenen glauben, Missempfindungen (zum Beispiel Jucken) zu spüren und manipulieren ihre Haut häufig mehrere Stunden am Tag. Dadurch können ihr Sozial- und Berufsleben beeinträchtigt werden, zumal das Skin-Picking-Syndrom typischerweise mit einem starken Schamgefühl einhergeht. Zu den Auslösern gehören Stress, Angst und Langeweile.1,2,8

  • Münchhausen-Syndrom1,2

Beim Münchhausen-Syndrom verursachen die Betroffenen absichtlich Symptome (darunter auch artifizielle Wunden), um als „krank“ zu gelten. Als Ursachen vermutet man unter anderem Traumata in der Kindheit und Verlustängste. Die Betroffenen haben ein Bedürfnis nach Zuwendung.1,2Beim „erweiterten Münchhausen-Syndrom“ (oder: Münchhausen-by-proxy-Syndrom) täuschen die Betroffenen bei einer weiteren Person Erkrankungen vor oder führen sie bei ihr herbei, damit sie ärztlich oder im Krankenhaus behandelt wird. Typischerweise betrifft diese Form der artifiziellen Störung Mutter und Kind.2

Nicht nur die Haut – weitere selbstverletzende Verhaltensweisen

Ähnlich wie beim Skin-Picking-Syndrom werden weitere sogenannte körperfokussierte, repetitive (wiederholende) Verhaltensweisen mit selbstverletzendem Charakter beobachtet, zum Beispiel:6

  • Trichotillomanie: Haare ausreißen bis zum deutlichen Haarausfall
  • Trichoteiromanie: physische Schädigung des Haars durch Reiben und Kratzen der Kopfhaut
  • Onychophagie: Nagelkauen
  • Onychotillomanie: Schädigung des Nagelbetts oder ständige Manipulation, Zupfen und/oder Entfernen der Nagelhaut/des Nagels
  • Rhinotillexomanie: zwanghaftes Nasebohren

Wie sehen artifizielle Wundbilder typischerweise aus?

Artifizielle Wunden werden meistens durch Schneiden („Ritzen“), Kneifen („Knibbeln“) oder Schlagen verursacht. Die folgenden Beispiele beschreiben typische artifizielle Wundbilder:4

  • Lineare oder geometrische Schnittwunden durch „Ritzen“ finden sich häufig an den Extremitäten wie an den Beugeseiten des Handgelenks und an der Vorderseite des Oberschenkels – mitunter symmetrisch lokalisiert. Sie präsentieren sich als parallele hypertrophe Narben oder als klar abgegrenzte und durchgehende Schnittwunden. Die Wunden können sehr tief sein und werden mit scharfen Gegenständen wie Rasierklingen, Teppichmessern oder Scheren verursacht.4
  • Artifizielle Wunden aufgrund des Skin-Picking-Syndroms präsentieren sich häufig als Abschürfungen (Exkoriationen), die zum Beispiel durch wiederholtes Kratzen und Zupfen verursacht wurden. Es kann sich auch um kleine Schnittwunden (zugefügt mit den Fingernägel) handeln. In manchen Fällen werden dazu auch spitze und scharfe Gegenstände wie Pinzetten, Nadeln oder Scheren verwendet. Außerdem können sich hypertrophe Narben und Keloide entwickeln. Am stärksten betroffen ist das Gesicht, aber auch die Kopfhaut, die Extremitäten und das Dekolleté.4,8
  • Bei der Pathomimie (veraltet: Dermatitis artefacta) manifestieren sich die Wunden uneinheitlich, beispielsweise als Erosionen, Exkoriationen, erythematöse Papeln (rote Hautknötchen), Ulzerationen, einschließlich nicht heilender postoperativer Wunden. Die Läsionen finden sich in einfach zugänglichen Lokalisationen wie dem Gesicht, den unteren Extremitäten und den Händen. In den meisten Fällen liegt mehr als eine Wunde vor. Verdächtig sind Wunden mit bizarrer Konfiguration.1,7

Wie lassen sich artifizielle Wunden erkennen?

Es ist häufig schwierig, artifizielle Wunden zu erkennen, da die Betroffenen ihre Manipulationen in vielen Fällen verheimlichen oder ihnen das selbstverletzende Verhalten nicht bewusst ist. Daher baut die Diagnose auf das Gesamtbild aus klinischen Anzeichen und anamnestischen Verdachtsmomenten, wie zum Beispiel:1,7

  • Widersprüchliche und unklare Aussagen der Betroffenen zur Entstehung der Läsionen
  • Inkonsistente Wundberichte
  • Widersprüche zwischen Symptomen und Untersuchungsergebnissen
  • Progress oder Wundheilungsstörungen trotz adäquater Behandlung
  • Umfangreiche Untersuchungen liefern keine eindeutige Diagnose
  • Auffälliges Verhalten der Betroffenen – sie wirken häufig passiv und unbeteiligt.
  • Beim Münchhausen-Syndrom: Häufige Arzt- und Klinikwechsel, Verschlechterung bei anstehender Entlassung aus dem Krankenhaus, forderndes bis aggressives Verhalten, wenn medizinische Wünsche nicht erfüllt werden.

Grundsätzlich gilt: Bei unklaren und bizarr konfigurierten Wunden kann selbstverletzendes Verhalten als Ursache in Betracht gezogen werden.1 Allerdings kann die Abgrenzung zu anderen Wundarten in der Praxis schwierig sein. Der wesentliche Unterschied zu klassischen chronischen Wunden oder Ulzerationen ist die Ursache – das selbstverletzende Verhalten.1,2 

Artifizielle Wunden – eine Herausforderung für die Pflege

Für Pflegefachpersonen kann der Umgang mit artifiziellen Wunden und mit den sich selbst verletzenden Patientinnen und Patienten herausfordernd sein:3

  • Ethische Zwickmühle: In vielen Fällen lehnen die Betroffenen eine Behandlung ab. Hier stehen Pflegefachpersonen vor dem Dilemma, ob sie jemanden zwangsweise behandeln dürfen oder nicht. Wichtig ist, einen Kompromiss zu finden, inwieweit Hilfe zugelassen wird.3
  • Gesellschaftliche Stigmatisierung: Neben medizinischen und ethischen Aspekten ist vor allem der wertfreie, zugewandte Umgang mit den Betroffenen entscheidend. Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit selbstverletzendem Verhalten sollte im pflegerischen Setting keinen Platz haben. Durch eine zugewandte und vorurteilsfreie Begegnung kann ein tragfähiger Zugang erreicht und somit die Wundbehandlung erleichtert werden (Adhärenzsteigerung).
  • Medizinisch anspruchsvoll:
    • Artifizielle Wunden haben häufig ein hohes Infektionsrisiko, wenn sich die Betroffenen zum Beispiel mit unsterilen Gegenständen verletzen oder sich tiefe Verbrennungswunden zufügen.
    • Mangelnde Adhärenz sowie wiederholte Manipulationen und Selbstverletzungen bergen das Risiko, dass sich aus einer akuten eine chronische Wunde entwickelt.
    • Eine starke Narbenbildung, vor allem bei wiederholten Verbrennungen, erschwert die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung der Wunde.
Seltener, aber potenziell folgenschwer: Selbstverletzungen und artifizielle Wunden im Alter

Ältere Menschen zeigen seltener als Jugendliche und junge Erwachsene selbstverletzendes Verhalten.4,5 Bei ihnen dominiert die Überdosierung von Medikamenten – aber auch das „Ritzen“ kann zu den selbstverletzenden Verhaltensweisen im höheren Lebensalter gehören, wie eine australische Studie herausfand. Die häufigsten Ursachen für Selbstverletzungen im Alter sind:9

  • Körperliche und seelische Erkrankungen wie chronische Schmerzen, Demenz oder Depression
  • Psychosoziale Probleme wie der Umzug in ein Pflegeheim oder soziale Isolation
  • Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, beispielsweise aufgrund einer drohenden Erblindung

Anders als bei Jüngeren hängen bei älteren Menschen Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken eng zusammen. Das heißt, nach einer Episode mit selbstverletzendem Verhalten erhöht sich in der Folgezeit das Suizidrisiko.9

Versorgung artifizieller Wunden

Grundsätzlich gilt für artifizielle Wunden das gleiche Vorgehen wie bei der Versorgung anderer (chronischer) Wunden. Ziel ist es, Komplikationen und Infektionen zu vermeiden.1,3 Dazu werden die folgenden Schritte empfohlen:3

  • Ausführliche Anamnese, soweit möglich, um zu verstehen, was mit der Wunde bislang passiert ist.
  • Gründliche Inspektion der Wunde(n) und Wundumgebung, um beispielsweise abzuklären, ob Nerven betroffen sind.
  • Sorgfältige Untersuchung, ob sich die Wunde(n) bereits infiziert hat / haben.
  • Bei der Versorgung der Wunde kann es in Einzelfällen ratsam sein, den Betroffenen weiterhin Zugang zur Wunde zu ermöglichen, damit sie beispielsweise keine neue Lokalisation für ihr selbstverletzendes Verhalten suchen.3 Außerdem kann es helfen, durchsichtige Verbandmaterialien zu verwenden, damit die Betroffenen ihre Verletzungen sehen und beobachten können.3,10 Hingegen kann es zur Diagnosesicherung, bei Verdacht auf eine artifizielle Wunde, sinnvoll sein, die betroffene Körperregion mit einem nicht zugänglichen Zinkleimverband zu bedecken. Wenn sich die Wunde mit diesem Verband verbessert, kann es ein Hinweis auf ein selbstverletzendes Verhalten als Ursache sein.

Die britische Fachgesellschaft Wound UK schlägt vor, die Betroffenen – soweit sie die erforderlichen Fähigkeiten haben – mit einem „Rescue Pack“ (Erste-Hilfe-Paket) auszustatten. Es enthält Produkte und Anleitungen, damit sie ihre artifiziellen Wunden selbst adäquat versorgen können und damit Komplikationen vermeiden.10

Weitere Empfehlungen für den Umgang mit Menschen mit artifiziellen Wunden

Grundlage für die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit selbstverletzendem Verhalten ist es, einen vertrauensvollen, vorurteilsfreien Kontakt aufzubauen.1,4

  • Kommunikation: Bei einem Verdacht auf selbstverletzendes Verhalten und artifizielle Wunden ist es wichtig, den Betroffenen unter vier Augen, ohne Angehörige oder andere Personen, darauf anzusprechen – ohne Schuldzuweisungen. Es ist zielführender, offene Fragen zu stellen, wie zum Beispiel: „Darf ich fragen, wie das passiert ist?“ statt „Haben Sie das absichtlich gemacht?“.
  • Ermutigung zur Selbstfürsorge: Wenn es nicht möglich ist, das selbstverletzende Verhalten zu beenden, kann es sinnvoll sein, die Betroffenen zu befähigen, ihre Wunden bestmöglich selbst zu versorgen.10
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Bei vielen Betroffenen liegt eine schwere psychische Erkrankung vor, die professionell behandelt werden muss. Hier ist eine enge Einbindung von Fachleuten aus den Bereichen Psychotherapie und Psychiatrie entscheidend. Zur Versorgung der Wunden ist es zudem wichtig, sich mit dem ärztlichen Bereich (Dermatologie, mitunter auch Chirurgie) abzustimmen.3,4
  • Prävention und Management: Ziel der pflegerischen Versorgung ist es, das Ausmaß der Selbstverletzung zu minimieren. Dazu gehören eine sorgfältige Kontrolle und Dokumentation der artifiziellen Wunden. Außerdem ist es hilfreich, diese Patientinnen und Patienten so gut wie möglich kennenzulernen, um individuelle Auslöser und Belastungssituationen rechtzeitig zu erkennen und dann relevante Fachleute hinzuzuziehen. Eine Fixierung der Betroffenen ist nur in Ausnahmefällen zulässig.3,4

Die Behandlung von Menschen mit selbstverletzendem Verhalten ist langwierig. Typische Therapieansätze sind Psychotherapie, die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sowie in manchen Fällen Psychopharmaka und eine stationäre psychotherapeutische Behandlung. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als besonders wirksam erwiesen. Sie zielt darauf, Verhaltensmuster und Gewohnheiten zu unterbrechen sowie Auslöser zu vermeiden.4

Literatur

Die Autorin Michelle Eisenberg
Michelle Eisenberg, examinierte Pflegekraft

Michelle Eisenberg ist examinierte Pflegekraft mit der Zusatzqualifikation Praxisanleitung in der Pflege.
Sie hat sowohl in der ambulanten als auch stationären Pflege Erfahrung gesammelt.
Seit einiger Zeit arbeitet Frau Eisenberg im Kundenservice von Dr. Ausbüttel im Bereich Beratung.