Chemische Verletzungen durch Säuren

Chemische Verletzungen durch Säuren

Chemische Verletzungen durch Säuren sind immer ein Notfall.

Bei Verätzungen sollte schnellstmöglich eine Notärztin/ein Notarzt gerufen oder ein Krankenhaus aufgesucht werden. Ersthelfer müssen sich zuerst selbst schützen, bevor sie einer Person mit chemischen Verletzungen helfen.

Symptome

Die Symptome einer Verätzung durch Säuren hängen von der Stärke der Säure, der Menge, Dauer der Exposition und der betroffenen Körperstelle ab. Meist verursacht eine chemische Verletzung starke Schmerzen.

Wurde die Säure oral aufgenommen, können Symptome im Mund, der Speiseröhre oder im Magen-Darm-Trakt auftreten. Schluckbeschwerden, vermehrter Speichelfluss oder sogar Atemnot treten bei Verätzungen im Mund und der Speiseröhre auf. Ursache ist das Anschwellen der Schleimhäute durch die Verätzung. Im Magen führt eine Verätzung zu krampfartigen Bauchschmerzen, die von Übelkeit und Erbrechen begleitet sein können.

Ist die Säure in die Augen gelangt, reichen die Symptome von leichten Sehstörungen bis hin zur vollständigen Erblindung. Auf der Haut verursacht der Kontakt mit einer Säure Hautrötungen, Blasen und heftige Schmerzen. Sind tiefere Gewebeschichten betroffen, lässt das Schmerzempfinden jedoch wieder nach oder setzt komplett aus.

Ursachen und Entstehung

Im Inneren jeder betroffenen Zelle sorgt die Säure für eine Zersetzung von Zellorganellen sowie einer Gerinnung der Eiweiße. Eiweiße sind Bestandteil sämtlicher intrazellulärer Organellen sowie Enzyme.

Proteine sind nur dann funktionsfähig, wenn die Eiweißketten, aus denen sie bestehen, korrekt gefaltet sind. Diese Faltung hängt von geladenen Gruppen innerhalb des Proteins ab und wird durch stabile Wasserstoffbrückenbindungen und andere Wechselwirkungen aufrechterhalten. Säuren gehen chemische Reaktionen mit den geladenen Gruppen von Proteinen ein und verändern die Ladung durch Protonenübertragung. Dies führt zur Aufspaltung der Wasserstoffbrückenbindungen und anderen Wechselwirkungen innerhalb der Eiweißkette. Das Protein ist in seiner funktionellen Konformation nicht länger stabil und verändert seine Form in einen energetisch günstigeren Zustand. Diese Aggregation wird auch Eiweißgerinnung genannt.

Durch die säurebedingte Eiweißgerinnung verlieren Proteine ihre Struktur und Funktion irreversibel. Damit tritt der Zelltod ein. Normalerweise verdauen sich abgestorbene Zellen durch weiterhin funktionsfähige, zelleigene Enzyme größtenteils selbst (Autolyse). Nach Säurekontakt sind diese Enzyme ebenfalls funktionsunfähig. Dementsprechend verbleiben die abgestorbenen, kernlosen Zellen im Gewebeverband bis sie nach Tagen bis Wochen von weißen Blutkörperchen (Leukozyten) entfernt (phagozytiert) werden. Bis dahin hat das abgestorbene Gewebe noch eine gewisse Reststabilität, die meist vor einem tieferen Eindringen der Säure schützt.

Säuren führen bei Haut- oder Schleimhautkontakt sofort zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Koagulationsnekrose mit Schorfbildung.

Risikofaktoren

Verätzungen durch Säuren passieren hauptsächlich durch Unfälle im eigenen Haushalt.

Meist sind säurehaltige, handelsübliche Reinigungsmittel Grund für eine Verätzung durch Säuren. Dazu gehören z.B.:

  • Kalkreiniger für das Bad
  • Entkalker für Wasserkocher oder Kaffeemaschine
  • Wischmittel für den Fußboden

Kinder können bereits in kurzen, unbeobachteten Momenten erreichbare Reinigungsmittel trinken bzw. essen oder über sich gießen. Durch ihre Neugierde und Unwissenheit sind Kinder am häufigsten Opfer von schlimmen inneren sowie äußeren Verätzungen. Ein beruflicher Umgang mit Chemikalien birgt ebenfalls ein erhöhtes Risiko, eine chemische Verletzung durch Säuren zu erleiden.

Behandlung und Therapie

Schutzhandschuhe bieten Sicherheit für Erste Hilfe bei Betroffenen mit Säureverletzungen. Bei Verletzten mit Säure auf der Haut sollte die Kleidung zunächst vollständig entfernt werden.

Dann sollte die betroffene Körperstelle unter fließendem Wasser abgespült werden. Wurde die Säure verschluckt, muss die Säure verdünnt werden. Deshalb sollen Betroffene in kleinen Schlucken Wasser oder Tee trinken. Ein Erbrechen darf nicht herbeigeführt werden, weil die Säure dadurch Speiseröhre und Mund ein zweites Mal verätzt.

Bei einer Augenverätzung muss das betroffene Auge mit frischem Wasser gespült werden. Gleichzeitig muss das unverletzte Auge geschützt werden. Aus dem Grund sollte die Spülung des betroffenen Auges von innen nach außen erfolgen. Der Kopf soll dabei zur Seite, in Richtung des verletzen Auges, geneigt werden. Damit ist sichergestellt, dass die Spülflüssigkeit nicht in das andere Auge oder mittig durch das Gesicht laufen kann.

Unabhängig von dem betroffenen Bereich des Körpers muss bei einer Verätzung spätestens nach der Erstversorgung der Betroffenen der Notruf gewählt werden. Wenn möglich, sollte dem medizinischen Personal das Etikett der verursachenden Säure mitgegeben werden. Auf keinen Fall dürfen Hausmittel wie Öl, Salben, Puder, Mehl oder ähnliches auf derartigen Verletzungen angewendet werden!

Chemische Verletzungen müssen immer ärztlich versorgt werden. Für Ersthelfer steht der Selbstschutz vor der Versorgung von Betroffenen.

Heilungsverlauf

Die Heilungsdauer hängt u.a. von der Art, Tiefe und dem Ausmaß der chemischen Verletzung ab.

Der Schweregrad der Verätzung bestimmt den Heilungsverlauf erheblich [modifiziert nach 1]:

GradBetroffene HautschichtenKlinikHeilung
1EpidermisRötung, starker Schmerz, wie SonnenbrandInnerhalb einer Woche, keine Narbenbildung
2DermisBlasenbildung, Wundgrund rosig/blass, starker bis nachlassender Schmerz, Haare noch vorhandenAbhängig von der Wundfläche ein bis zwei Wochen, mit Narbenbildung
3Komplette DermisTrockener, weißer, lederartig harter Wundgrund, keine Schmerzen, keine Haare mehr vorhandenWochen bis Monate, gestörter Heilungsverlauf, Gefahr von Infektionen, Narbenbildung

Mögliche Komplikationen

Einige Chemikalien haben neben der Verätzung weitere gefährliche Wirkungen auf den Körper. Entsprechend müssen diese Substanzen notärztlich besonders dekontaminiert werden.

Unter den Säuren im weitesten Sinne bedürfen folgende chemische Stoffe besonderer Beachtung:

  • Weißer Phosphor muss sofort mit Wasser abgespült werden mit nachfolgendem chirurgischem Debridement. Bereits bei Temperaturen um die 30°C beginnt weißer Phosphor zu brennen und reagiert mit Wasser zu Phosphorsäure. Zum einen verursacht weißer Phosphor starke und tiefe Verbrennungen. Zum anderen können Störungen des Stoffwechsels, in Magen und Darm sowie Schädigungen der Leber, Herz und Nieren die Folge eines Kontakts sein.
  • Flusssäure sollte mindestens 20 Minuten lang ausgedehnt gespült werden. Kalziumglukonat sollte sowohl unter die Wunden gespritzt als auch in Form von Gel auf die Wunden aufgetragen werden. Die in der Flusssäure enthaltenen Fluorid-Ionen penetrieren tief ins Gewebe. Dort stören sie die Reizweiterleitung der Nerven und führen zu Knochenabbau. Außerdem senkt Flusssäure den Kalziumspiegel im Blut, was Herzrhythmusstörungen zur Folge haben kann.
  • Auf Chromsäure sollte Phosphat nach der Spülung mit Wasser aufgetragen werden. Die weitere Behandlung muss schnell chirurgisch erfolgen. Nach Kontakt mit Chromsäure besteht die Gefahr einer Nierenfunktionsstörung.
  • Phenol sollte sehr schnell mit fließenden Polyethylen-Glykol dekontaminiert werden. Weil Phenol stark lipophil ist, penetriert es schnell durch Zellmembranen und führt zu vielfältigen, schweren Effekten auf den gesamten Körper.

Besonders beim Verschlucken oder nach großflächigen Verätzungen durch Säuren kann ein Schock die Folge sein. Typische Symptome eines Schocks sind Zittern oder Frieren, kalter Schweiß sowie blasse Haut, vor allem im Gesicht. Durch die Verätzung von Haut oder Schleimhäuten strömt Flüssigkeit aus dem Blut in das verletzte Gewebe. Dadurch entstehen einerseits Ödeme im Gewebe. Andererseits nimmt das Blutvolumen ab, wodurch der Blutdruck nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Dann spricht man von einem hypovolämischen Schock. Eine Verätzung per se ist bereits ein Notfall, bei einem Schock muss umgehend ein Notruf getätigt werden.

Literatur

Die Autorin Dr. Roxane Lorenz
Dr. Roxane Lorenz

Nach ihrem Studium der Biologie an der Ruhr-Universität Bochum promovierte Dr. Lorenz zum Dr. rer. nat. Seit 2012 ist sie in der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung bei Dr. Ausbüttel tätig, seit 2018 auch als Leiterin dieser Abteilung sowie der Forschungsabteilung.